Genial ist es, Monster gar nicht erst zu erschaffen: Die Gedichte von Albert Goldbarth

Seit Jahren habe ich eine Vorliebe für die von Strömungen und Schulen ungerührten Einzelgänger der an Strömungen und bitteren Streitereien nicht gerade armen US-Lyrik. Der zwei Mal mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnete Lyriker Albert Goldbarth gehört definitiv dazu. Die bei Graywolf erschienene, umfangreiche Werkauswahl ist auch 10 Jahren nach ihrem Erscheinen jeden Cent wert.

Blättert man durch den Band »The Kitchen Sink«, der eine Auswahl aus den zwischen 1972 und 2007 veröffentlichten Gedichten Albert Goldbarths versammelt, wird einem relativ schnell klar, dass der Autor eine intensive Vorliebe für lange, enzyklopädische Gedichte hegt, die Zeit und Raum krümmen und einen Strudel erzeugen, auf den einzulassen, durchaus erfordern könnte, alle Störgeräusche und Bieptöne auszuschalten.

Albert Goldbarth ist ein passionierter Sammler von Spielzeug der 50er Jahre, einer Zeit, in der die USA vom Weltraumzeitalter träumten und immenser Reichtum in die Vorgärten strömte. Die vor Selbstbewusstsein strotzende Republik, die zwei Jahrzehnte zuvor noch in der Great Depression einer unklaren Zukunft entgegensah, machte sich mit großen Schritten auf, das amerikanische Jahrhundert zu gestalten. Wer in jenen Jahren seine Kindheit verbracht hat, dürfte zeitlebens zwei Impulse verspüren: den inneren 68er und einen Nostalgiker. Und beides ist im Werk des 1948 geborenen Goldbarth vorhanden.

Dankbarerweise hat sich Goldbarth bei seiner Auswahl früh dazu entschieden, keine Exzerpte aus seinen längeren Gedichten aufzunehmen – eine triste Unart der US-Editionskultur, denn entweder wird das Gedicht so nur noch ein Teaser für den Kauf anderer Bücher – die erworbene Ausgabe mithin nutzlos – oder das Gedicht war von Vornherein zu lang und der nun fragmentarische Best-Of erscheint als unfertige Zeitverschwendung. Zwar finden sich dennoch auch seine Langgedichte in dem Buch, die editorische Entscheidung bedeutet aber natürlich, dass mehrere buchlange Gedichte Albert Goldbarths nicht in der Auswahl vertreten sind.

In seinem Vorwort erklärt der mit dem Mark Twain Award ausgezeichnete Goldbarth nicht nur sein etwas eigenwilliges Anordnungsprinzip, das die sonst übliche Chronologie aufbricht und die Gedichte in thematische Blöcke einordnet. Er gibt auch zu, dass einige seiner Leser insbesondere seine kürzeren Gedichte lieben. Diesen wenige Zeilen langen Gedichten ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Ein besonders schönes Beispiel für die großartig aufblitzenden kürzeren Gedichte Goldbarths ist »A Photo of a Lover from My Junior Year in College«, in dem Welterzählung, nostalgische Anekdote, der 68er Rebell wie auch der scheinbar widersprüchliche konservativ-bewahrende Impuls dieser Generation zusammenkommen.

Hier Original und Übersetzung. [Die Übersetzung auch als mp3-Lesung]

 

A Photo of a Lover from My Junior Year in College

 

Or the Earth: one half in sun,
one in darkness.

The planet can be its two selves at once
Not us; we’re either asleep, or awake.

We’re either walking over the countless graves,
or in them. Here, or there.

We rarely pay attention to the moment of transition.
Blood, being oxygenated. Love, when it’s still just chemicals.

She has one of her arms in an arm of her blouse,
and the other one wonderfully not.

 

Foto einer Geliebten aus meinem ersten Jahr am College

 

Oder die Erde: eine Hälfte in der Sonne
eine Hälfte im Dunkel.

Der Planet kann seine beiden Hälften zugleich sein,
wir nicht. Wir sind entweder wach oder schlafen.

Wir laufen entweder über unzähliger Gräber
oder sind in ihnen. Hier oder da.

Wir kümmern uns selten um den Moment des Übergangs.
Blut, das oxydiert. Liebe, wenn sie noch lediglich Chemie ist.

Sie hat einen ihrer Arme in einem Arm ihrer Bluse,
den anderen wundervoller Weise nicht.

 

Lesung:


 

Diese Verschmelzung eines kleinen privaten Erlebnisses mit dem ganz Großen, dem Universum, dem Wüten der Welt an sich, treibt diese harmlos daher kommenden Gedichte an. Dies gilt auch für das Gedicht »One Continuous Substance«, in dem in wenigen Zeilen Kindheit, Tod des Vaters und das Licht als physikalisches Phänomen und zugleich als tröstende Erscheinung auftauchen und zu einem einzigen Stoff verschmelzen, den wir nun lesen können:

 

One Continuous Substance

 

A small boy and a slant of morning light
both exit the last dark trees of this forest, though
the boy is gone in an instant. Not

the light: it travels its famous 186,000 miles per second
to be this still gold bar
on the floor of the darkness. I suppose

that from the universe’s point of view
we do the same: a small boy and an old man
being one continuous substance.

We were making love when the phone rang
saying my father was dead, and the sun
kept touching you, there, and there, where I’d been.

 

Eine gleichbleibende Substanz

 

Ein kleiner Junge und ein Spalt Morgenlicht
verlassen beide die letzten dunklen Bäume des Waldes, obwohl:
der Junge verschwindet sofort. Nicht

das Licht: es reist seine berühmten 186.000 Meilen pro Sekunde,
um dieser ruhige goldne Strich zu sein
auf dem Boden aus Dunkelheit. Ich nehme an,

dass vom Standpunkt des Universums betrachtet
wir das selbe tun: ein kleiner Junge und ein alter Mann
sind eine gleichbleibende Substanz.

Wir liebten uns, als das Telefon ging
und sagte, dass mein Vater tot war, und die Sonne
berührte dich weiterhin da und dort, wo ich noch eben war.

 


 

Wenig überraschend sind diese großen Bewegungen immer auch  Gedichte über das Schreiben, über die Entstehung der Gedichte selbst. In »The Novel That Asks to Erase Itself« wird dem vermeintlich sicheren Feld traditioneller Erzählliteratur gleich der gesamte Boden entzogen. Das Gedicht führt uns zunächst auf das ausgetretene Gleis der Beziehungsgedichte. Beobachtet wird ein schweigendes Paar in einer Bar und wir platzen hinein in die bereits stattfindende Spekulation des lyrischen Ichs über die Gründe, weshalb das Paar kein Wort miteinander wechselt. Aus diesem recht banalen Ausgangsszenario werden wir in einen Gedanken geführt, der uns vom Taj Mahal über die Erfindung der Anti-Materie bis zu Frankenstein führt.

 

The Novel That Asks to Erase Itself

 

But perhaps that couple sitting in the corner booth
in silence isn’t working out some bitterness

in what got said, but working on not saying it:
a sturdy and impressive Taj Mahalian construction

that we’ll never see, which of course
is the point––as if inventing anti-matter

or zero: something immeasurably important
although beyond our witnessing senses. They might be

the lesson of Frankenstein, incarnate
in this neighborhood bar. The genius wasn’t

in making the monster; and certainly not
in killing it; but would have been,

invisibly, in not making it to begin with.

 

Der Roman bittet um Erlaubnis sich auszuradieren

 

Vielleicht aber ist dieses Paar auf der Eckbank
nicht damit beschäftigt, Verbitterungen aufzudröseln,

was gesagt wurde, sondern müht es sich, es nicht zu sagen:
eine feste, eindrucksvolle Taj Mahal-Konstruktion

die wir nie erblicken, und natürlich ginge
es genau darum – als würde Antimaterie erfunden

oder die Null: etwas unmessbar Wichtiges
und doch unerreichbar für unsere Sinne. Vielleicht sind sie

die Lektion aus Frankenstein, Fleisch geworden
in dieser kleinen Bar. Genial war nicht

die Erschaffung des Monsters; und gewiss nicht
die Tötung; genial wäre gewesen, es

nicht sichtbar, gar nicht erst zu erschaffen.


 

Was Goldbarth auf so kleinem Raum entfalten kann, ist atemberaubend und die Versammlung der kurzen Gedichte im 350 Seiten umfassenden Auswahlband Anlass genug, sich die gebunden wie als Taschenbuch erhältliche Ausgabe zuzulegen: Albert Goldbarth, The Kitchen Sink: New and Selected Poems 1972 – 2007, Graywolf, 2007.

Einen ersten Überblick zu Albert Goldbarths Werk findet man auf der Seite der Poetryfoundation.

Wer dann Feuer gefangen hat, kann sich tiefer hineinbegeben und einige frei verfügbare Interviews mit Goldbarth lesen. [Hier, hier und hier] oder sich gleich den seit der Werkauswahl von 2007 erschienenen neuen Gedichtbänden widmen:

To Be Read in 500 Years, Graywolf, 2009

Everyday People, Graywolf, 2015

Selfish: Poems, Graywolf, 2015

Loves & Wars of Relative Scale, Lost Horse Press, 2017

The World of Multicongruencies We Tend to Inhabit Increasingly, New Michigan Press, 2017

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